Weshalb benötigen wir eine soziale Taxonomie?
Die Argumente für eine soziale Taxonomie sind sehr ähnlich gelagert wie diejenigen, die zur Einführung der ökologischen geführt haben: Es soll Kapital in wirtschaftliche Aktivitäten umgelenkt werden, die zur Erfüllung sozialer Ziele beitragen. Die Voraussetzungen dafür sind gut, da Investor:innen großes Interesse an sozial nachhaltigen Investments haben. Dies zeigen die konstant steigenden Erlöse aus Finanzinstrumenten wie „Social Impact Bonds“ oder auch Bildungsanleihen. Doch herrscht Unsicherheit darüber, welche Produkte tatsächlich sozial nachhaltig sind und welche nur sozial „gewaschen“ werden. Um diese Unsicherheit auszuräumen und Vertrauen im Markt zu stiften, ist ein Klassifizierungssystem notwendig, das Investor:innen dabei hilft, sozial nachhaltige Investments klar von solchen zu unterscheiden, die es nicht sind. Auch um Nachhaltigkeitsrisiken zu erkennen und zu senken, ist dies für Finanzmarktteilnehmer wichtig.
Außerdem ist zu bedenken, dass ökologische und soziale Umstände oft eng ineinandergreifen, beispielsweise bei der Versorgung mit sauberem Trinkwasser oder der Elektrifizierung unterversorgter Haushalte in den ländlichen Gebieten vieler Entwicklungsländer. Überdies müssen im Sinne einer „just transition“ die sozialen Probleme abgefedert werden, die sich aus dem durch die Öko-Taxonomie ausgelösten Strukturwandel (beispielsweise für die in den betroffenen Sektoren beschäftigten Arbeiter:innen) ergeben werden. Eine „grüne“ Taxonomie reicht folglich nicht aus.
Wie kann und sollte eine soziale Taxonomie ausgestaltet werden?
Eine soziale Taxonomie zu verfassen, ist in mancher Hinsicht herausfordernder als eine ökologische, wie auch der im Juli zur Konsultation gestellte
Bericht der „EU Platform for Sustainable Finance“ aufzeigt. So ist es nicht möglich, ein soziales Klassifizierungssystem auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu gründen, wie es bei einem ökologischen gemacht werden kann. Es kann nur aus autoritativen Normen und Prinzipien zusammengestellt werden, auf die sich die Weltgemeinschaft in den vergangenen Jahrzehnten verständigt hat. Als Quellen können hierfür neben der Menschenrechtserklärung und dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte etwa die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen, die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, die Europäische Sozialcharta oder die bereits erwähnten UN Sustainable Development Goals dienen. Auch kann es im sozialen Bereich nicht nur darum gehen, negative Auswirkungen – die Verletzung von Menschenrechten, analog zum Ausstoß von CO2 im ökologischen Bereich – zu verhindern. Wirtschaftsaktivitäten müssen darüber hinaus einen „substanziellen“ positiven Beitrag zugunsten eines sozialen Ziels leisten. Wie viel nun ein bestimmtes Finanzprodukt zu einer sozialen Zielsetzung beiträgt, lässt sich jedoch nicht immer mit derselben Präzision bestimmen wie der CO2-Abdruck eines Portfolios. Denn soziale Probleme wie Armut und Ungleichheit haben komplexe und multiple Ursachen, die oft in spezifischen Kontexten verankert sind.
Ist soziale Nachhaltigkeit also nicht messbar? Keineswegs. Denn in jedem Fall kann – sowohl quantitativ als auch qualitativ – die Bereitstellung bestimmter Produkte und Dienstleistungen gemessen werden, die einen in der Menschenrechtserklärung von 1948 für alle Menschen geforderten „adäquaten Lebensstand“ ermöglichen. Dazu gehören beispielsweise eine erschwingliche Gesundheitsversorgung, bezahlbarer Wohnraum, menschenwürdige Arbeit und der Zugang zu Finanzdienstleistungen. Wer diese für Menschen verfügbar macht, die bislang keinen oder nur eingeschränkten Zugang dazu haben, leistet ganz klar einen „substanziellen Beitrag“ zu einem sozialen Ziel.
Es ist Augenmaß gefragt
Sollte sich die Europäische Kommission für das Verfassen einer sozialen Taxonomie entschließen, wird eine der größten Herausforderungen in der Definition von Indikatoren und Schwellenwerten für die einzelnen Sektoren liegen. Denn aus ihnen ergibt sich möglicherweise ein erhöhter Aufwand in der Datenbeschaffung für die Anbieter nachhaltiger Finanzprodukte, den sie auch von den jeweiligen Unternehmen in der Realwirtschaft fordern werden. Wäre dieser Mehraufwand oder die Art der zu beschaffenden Daten für die Unternehmen nicht realistisch umsetzbar, würde dies die Absicht der Taxonomie konterkarieren. Die Gefahr bestünde dann, dass nur aus diesem Grund viele nachhaltige Unternehmen nicht als solche eingestuft werden könnten. Der förderungswürdige Sektor kleiner und mittelständischer Unternehmen befindet sich diesbezüglich in einer schwierigeren Position als große Unternehmen. Insbesondere in Entwicklungs- und Schwellenländern, in denen zweifellos der größte Bedarf an sozial nachhaltigen Investitionen besteht, ist die Datenlage bisweilen schwierig. Hier gilt es, eine zielgerichtete Balance zu finden. Denn die Anforderungen sollten andererseits auch nicht zu unkonkret sein, weil dann die Chance verpasst würde, den Druck auf die Unternehmen sanft zu erhöhen und für eine Verbesserung und langfristige Angleichung der Reporting-Standards zu sorgen.
Benötigt wird also eine soziale Taxonomie mit einem gut austarierten Ambitionsniveau, zu dem natürlich auch ökologische Mindeststandards, analog zum sozialen Mindestschutz der „grünen Taxonomie“, wie auch die Anwendung des Do-No-Significant-Harm-Prinzips
[1] gehören müssen. Eine derart ausgestaltete soziale Taxonomie wäre zweifellos ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zu einem nachhaltigen und zukunftsfähigen Finanzsystem. Invest in Visions hofft, dass es diesbezüglich noch vor Ende dieses Jahres zu einem positiven Entscheid in Brüssel kommen wird.◊
8.11.2021
Autor: Dr. Moritz Isenmann
[1] Das Do-No-Significant-Harm-Prinzip besagt, dass wirtschaftliche Aktivitäten, die einen wesentlichen Beitrag zu einem ökologischen oder sozialen Ziel leisten, anderen Sozial- oder Umweltzielen keinen erheblichen Schaden zufügen dürfen.