Plädoyer für eine soziale Nachhaltigkeitstaxonomie

In diesem Blog-Eintrag wenden wir uns den regulatorischen Anforderungen zu, die auf EU-Ebene an nachhaltige Finanzakteure gestellt werden. Nachdem bereits eine Taxonomie zur Definition von ökologisch nachhaltigen Aktivitäten verabschiedet wurde, steht ein entsprechendes Regelwerk für die soziale Nachhaltigkeit noch aus.

Es ist mittlerweile über drei Jahre her, dass die Europäische Kommission ihren ambitionierten „Aktionsplan: Finanzierung nachhaltigen Wachstums“ verkündet hat, mit dem das europäische Finanzsystem nachhaltig umgeformt werden soll. In der Zwischenzeit hat sie bereits mehrere regulatorische Elemente für dessen Umsetzung geliefert. Als ein Meilenstein gilt die Verabschiedung einer „Taxonomie“, die wirtschaftliche Aktivitäten definiert, die zur Abmilderung des Klimawandels beitragen. Es handelt sich um ein mit präzisen Schwellenwerten zum maximal erlaubten CO2-Ausstoß ausgestattetes Klassifizierungssystem, das es Investoren erlaubt, nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten von nicht-nachhaltigen zu unterscheiden. Sie wird 2022 in Kraft treten. Weitere ökologische Klassifizierungssysteme sind schon in Arbeit, ebenso wie ein europäischer „Green Bond Standard“.

Aktuell wird diskutiert, ob es neben der ökologischen auch eine soziale Taxonomie geben wird. Invest in Visions plädiert entschieden für einen solchen Schritt. Falls es nicht dazu kommen sollte, würde aus dem sozialen Bereich lediglich der in der „grünen“ Taxonomie enthaltene „Mindestschutz“ aus Artikel 18 der Taxonomie-Verordnung angewendet. Das wäre unserer Ansicht nach deutlich zu wenig. Wenn es tatsächlich um eine „große Transformation“ des Finanzsystems gehen soll, darf der mittlere Buchstabe in „ESG“ nicht klein geschrieben werden. Die großen sozialen Probleme unserer Zeit wie Armut und Ungleichheit, die die Corona-Pandemie nochmals verschärft hat, müssen angegangen werden. Dies entspricht auch der Zielsetzung der „Agenda 2030“, den 17 UN SDGs (Sustainable Development Goals), eines der zentralen Zukunftsdokumente der Weltgemeinschaft, in der soziale Entwicklungsziele sogar stärker gewichtet sind als ökologische.

Weshalb benötigen wir eine soziale Taxonomie?
 
Die Argumente für eine soziale Taxonomie sind sehr ähnlich gelagert wie diejenigen, die zur Einführung der ökologischen geführt haben: Es soll Kapital in wirtschaftliche Aktivitäten umgelenkt werden, die zur Erfüllung sozialer Ziele beitragen. Die Voraussetzungen dafür sind gut, da Investor:innen großes Interesse an sozial nachhaltigen Investments haben. Dies zeigen die konstant steigenden Erlöse aus Finanzinstrumenten wie „Social Impact Bonds“ oder auch Bildungsanleihen. Doch herrscht Unsicherheit darüber, welche Produkte tatsächlich sozial nachhaltig sind und welche nur sozial „gewaschen“ werden. Um diese Unsicherheit auszuräumen und Vertrauen im Markt zu stiften, ist ein Klassifizierungssystem notwendig, das Investor:innen dabei hilft, sozial nachhaltige Investments klar von solchen zu unterscheiden, die es nicht sind. Auch um Nachhaltigkeitsrisiken zu erkennen und zu senken, ist dies für Finanzmarktteilnehmer wichtig.
 
Außerdem ist zu bedenken, dass ökologische und soziale Umstände oft eng ineinandergreifen, beispielsweise bei der Versorgung mit sauberem Trinkwasser oder der Elektrifizierung unterversorgter Haushalte in den ländlichen Gebieten vieler Entwicklungsländer. Überdies müssen im Sinne einer „just transition“ die sozialen Probleme abgefedert werden, die sich aus dem durch die Öko-Taxonomie ausgelösten Strukturwandel (beispielsweise für die in den betroffenen Sektoren beschäftigten Arbeiter:innen) ergeben werden. Eine „grüne“ Taxonomie reicht folglich nicht aus.
 
Wie kann und sollte eine soziale Taxonomie ausgestaltet werden?
 
Eine soziale Taxonomie zu verfassen, ist in mancher Hinsicht herausfordernder als eine ökologische, wie auch der im Juli zur Konsultation gestellte Bericht der „EU Platform for Sustainable Finance“ aufzeigt. So ist es nicht möglich, ein soziales Klassifizierungssystem auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu gründen, wie es bei einem ökologischen gemacht werden kann. Es kann nur aus autoritativen Normen und Prinzipien zusammengestellt werden, auf die sich die Weltgemeinschaft in den vergangenen Jahrzehnten verständigt hat. Als Quellen können hierfür neben der Menschenrechtserklärung und dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte etwa die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen, die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, die Europäische Sozialcharta oder die bereits erwähnten UN Sustainable Development Goals dienen. Auch kann es im sozialen Bereich nicht nur darum gehen, negative Auswirkungen – die Verletzung von Menschenrechten, analog zum Ausstoß von CO2 im ökologischen Bereich – zu verhindern. Wirtschaftsaktivitäten müssen darüber hinaus einen „substanziellen“ positiven Beitrag zugunsten eines sozialen Ziels leisten. Wie viel nun ein bestimmtes Finanzprodukt zu einer sozialen Zielsetzung beiträgt, lässt sich jedoch nicht immer mit derselben Präzision bestimmen wie der CO2-Abdruck eines Portfolios. Denn soziale Probleme wie Armut und Ungleichheit haben komplexe und multiple Ursachen, die oft in spezifischen Kontexten verankert sind.
 
Ist soziale Nachhaltigkeit also nicht messbar? Keineswegs. Denn in jedem Fall kann – sowohl quantitativ als auch qualitativ – die Bereitstellung bestimmter Produkte und Dienstleistungen gemessen werden, die einen in der Menschenrechtserklärung von 1948 für alle Menschen geforderten „adäquaten Lebensstand“ ermöglichen. Dazu gehören beispielsweise eine erschwingliche Gesundheitsversorgung, bezahlbarer Wohnraum, menschenwürdige Arbeit und der Zugang zu Finanzdienstleistungen. Wer diese für Menschen verfügbar macht, die bislang keinen oder nur eingeschränkten Zugang dazu haben, leistet ganz klar einen „substanziellen Beitrag“ zu einem sozialen Ziel.
 
Es ist Augenmaß gefragt
 
Sollte sich die Europäische Kommission für das Verfassen einer sozialen Taxonomie entschließen, wird eine der größten Herausforderungen in der Definition von Indikatoren und Schwellenwerten für die einzelnen Sektoren liegen. Denn aus ihnen ergibt sich möglicherweise ein erhöhter Aufwand in der Datenbeschaffung für die Anbieter nachhaltiger Finanzprodukte, den sie auch von den jeweiligen Unternehmen in der Realwirtschaft fordern werden. Wäre dieser Mehraufwand oder die Art der zu beschaffenden Daten für die Unternehmen nicht realistisch umsetzbar, würde dies die Absicht der Taxonomie konterkarieren. Die Gefahr bestünde dann, dass nur aus diesem Grund viele nachhaltige Unternehmen nicht als solche eingestuft werden könnten. Der förderungswürdige Sektor kleiner und mittelständischer Unternehmen befindet sich diesbezüglich in einer schwierigeren Position als große Unternehmen. Insbesondere in Entwicklungs- und Schwellenländern, in denen zweifellos der größte Bedarf an sozial nachhaltigen Investitionen besteht, ist die Datenlage bisweilen schwierig. Hier gilt es, eine zielgerichtete Balance zu finden. Denn die Anforderungen sollten andererseits auch nicht zu unkonkret sein, weil dann die Chance verpasst würde, den Druck auf die Unternehmen sanft zu erhöhen und für eine Verbesserung und langfristige Angleichung der Reporting-Standards zu sorgen.
 
Benötigt wird also eine soziale Taxonomie mit einem gut austarierten Ambitionsniveau, zu dem natürlich auch ökologische Mindeststandards, analog zum sozialen Mindestschutz der „grünen Taxonomie“, wie auch die Anwendung des Do-No-Significant-Harm-Prinzips[1] gehören müssen. Eine derart ausgestaltete soziale Taxonomie wäre zweifellos ein weiterer Meilenstein auf dem Weg zu einem nachhaltigen und zukunftsfähigen Finanzsystem. Invest in Visions hofft, dass es diesbezüglich noch vor Ende dieses Jahres zu einem positiven Entscheid in Brüssel kommen wird.◊
 
8.11.2021
 
Autor: Dr. Moritz Isenmann
 
Schreiben Sie mir eine E-Mail: moritz.isenmann@investinvisions.com
 
[1] Das Do-No-Significant-Harm-Prinzip besagt, dass wirtschaftliche Aktivitäten, die einen wesentlichen Beitrag zu einem ökologischen oder sozialen Ziel leisten, anderen Sozial- oder Umweltzielen keinen erheblichen Schaden zufügen dürfen.

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